Die arabische Welt ist in vollem Aufruhr: diese eine Tatsache alleine ist schon eine historische Tatsache.
1. Die arabische Welt, dieses System von fossilen Autokratien, die wie Zombies dem Friedhof der Revolutionsgeschichte entstiegen schienen, diese bizarre Welt, in der es vor kurzem noch möglich schien, dass Präsidenten Dynastien gründen, Pharaonen bei lebendigem Leib mumifiziert werden; eine Welt der immerwährenden Verteidigung der immer neuen Revolutionen der immer gleichen Offiziere, der immerwährenden vaterländischen Kriege und illusionären glorreichen Siege gegen den Erzfeind; ein System von allmächtigen Staaten, die schon von Gründung an gescheiterte Staaten waren; aufrecht erhalten durch nichts als ihre eigene Unfähigkeit, die nachgerade schon zu einer nicht unbedeutenden ökonomischen Grösse geworden war; und seit langem ohne jede relevante Opposition.
Diese arabische Welt ist, und das soll man feiern, in diesen Tagen – historische Tage, tatsächlich! – zu einem Ende gekommen. Wir wollen hoffen, dass auch die Produkte dieser alptraumhaften Regime mit ihnen zu grunde gehen, und nicht noch die Zeit danach vergiften; die Passivität der Massen, die aus dem richtigen Bewusstsein kommt, an allen grossen geschichtlichen Ereignissen, den Putschen und korrektiven Umstürzen, keinen Anteil zu haben; der allgegenwärtigen Furcht vor Verschwörungen aller Art, die nur allzu wohl gegründet ist in dem Wissen, tatsächlich blosses Objekt aller nur denkbaren Pläne von in der Tat finsteren Gestalten zu sein; und dabei der allgegenwärtigen Bereitschaft, den gegenwärtigen Zustand gut zu heissen, und alle seine unabstreitbaren Schrecken dem äusseren Feind, dem Imperialismus, den Zionismus zuzuschreiben.
Wir wollen hoffen, und sei es nur für einen Augenblick, dass in diesen Tagen die Menschen in den arabischen Staaten ihr Bewusstsein, und ihre Geschichte erobern, und damit ihre historische Verantwortung, und die Erfahrung, dass sie ihre Geschichte selbst machen müssen. Denn, und dies ist unsere finstere Hoffnung, sobald ein relevanter Teil der Menschheit diese Erfahrung erobert, fängt sie an, wahr zu werden, und verwandelt sich von einer verzweifelten Illusion in eine objektive Macht; und dass die Menschheit ihre Passivität hinter sich liesse, und ihre Geschichte eroberte, was könnten Kommunist/innen sich, als einen ersten Schritt, besseres wünschen?
2. Die arabische Welt, das war nie, auch wenn es so schien, der traurige, abgehängte, rückständige Teil dieser so schönen und modernen neuen Welt; sondern alle so offensichtlichen Zeichen ihres völligen Scheiterns waren Zeichen des Scheiterns dieser Moderne selbst, in der wir alle leben, und eine historische Strafe für das unfassbare Versäumnis der Menschheit, mit Staat und Kapital nicht Schluss gemacht zu haben, als es nocht Zeit war; am traurigen Zustand der arabischen Gesellschaften lesen wir nur den traurigen Zustand der unseren ab, und es geht uns aufs genaueste etwas an, was dort heute passiert; und es lädt uns nur um so mehr die Verpflichtung auf, das unsere zu tun, damit diese heutige arabische Revolte, und die iranische vor ihr, nicht vergebens gewesen ist, oder schlimmeres.
Es ist für die politischen Analysten aller Seiten einfach, die Zustände in den arabischen Ländern etwa auf die völlige Unfähigkeit ihrer Eliten zurückzuführen; und schon wieder hat man ein Problem zur völligen Zufriedenheit erklärt. Aber man vergisst gerne die konkreten Bedingungen, unter denen diese Staaten entstanden und diese Gesellschaften in die Geschichte, und das heisst in den Weltmarkt eingetreten sind.
Denn man muss, alle Analysten aller Seiten, um jeden Preis verschweigen, oder vergessen, dass die ganze kapitalistische Moderne, westlicher oder moskauer Ordnung, schon lange jede Fähigkeit verloren hatte, den Gesellschaften eine irgendwie vernunftähnliche Ordnung zu geben; dass sie jede innere Vernunft, die sie vielleicht irgendwann einmal gehabt haben mag, verloren hat, und zwar schon vor langer Zeit (Wolfgang Pohrt spricht immerhin von 1870); und dass diese Ordnung „vernünftig“, sogar „fortschrittlich“ überhaupt nur gewesen ist zu einer Zeit, wo man sich einbilden konnte, das neugeschaffene Proletariat könne diese Ordnung umwerfen und die allgemeine menschliche Befreiung an ihre Stelle setzen.
Mit dem Weltkrieg, und der ausgebliebenen Revolution, und erst Recht mit der Konterrevolution und dem Nationalsozialismus ist diese Perspektive völlig verloren gegangen. Und so erhält sich Herrschaft und Ausbeutung, gegen jede Vernunft, am Leben; es wäre übertrieben, zu glauben, man sähe es der Herrschaft wie der Ausbeutung nicht an, dass sie das Ablaufen aller ihrer historischen Rechtfertigungen überlebt hat; dass sie längst abgeschafft gehört hätte, und trotzdem lebt, das macht sie gerade so zombiehaft. Dass sie wenigestens zu erfüllen vermöchte, was Marx dem Kapital als historische Legitimation schaudern zugestehen mochte: die bürgerliche Gesellschaft herzustellen, die moderne Gesellschaft von freien und gleichen Verkäufern ihrer Arbeitskraft; keine Rede mehr davon! Das Kapital selbst, in Gestalt einer vormodernen Spukmaske, sucht wie ein Alptraum die leeren Geisterstädte heim, die es selbst geschaffen hat.
Der Islamismus selbst, diese blutige Maskerade, ist genau eine vollständig moderne Bewegung, in der nichts zum Ausdruck gebracht wird als die Verzweiflung des Kapitals an sich selbst.
Diese arabische Welt, dieses rückständige Gebilde, in dem bis vor kurzem nichts sich regte als der apokalyptische Wahnsinn verhetzter Fanatiker: das ist das exakte Abbild, das wahre Gesicht dieser ganzen Welt, in der wir alle leben, überall; und es ist unsere eigene Sache, die auf den Strassen von Tunis und Qahirah verhandelt wird; und, wie wir hoffen, auch bald wieder auf denen von Tehran.
3. Die Revolte in Tunesien hat, für einen kurzen Moment zunächst, das ganze spezifisch arabische Elend zerrissen, und zum ersten Mal in der Geschichte gezeigt, dass ein arabisches Regime von der eigenen Bevölkerung gestürzt werden kann;(1) dass auch diese scheinbar geschichtslos gewordenen Regime nicht ewig sind; und dass auch die Passivität der arabischen Gesellschaften keine Naturtatsache, sondern Ergebnis einer einzigartigen historischen Sackgasse sind; einer Sackgasse, zu der die speziell postkoloniale Konstellation, der gescheiterte Versuch eines nicht-kapitalistischen Aufbaus, das daraufgesetzte Modell der neoliberalen Modernisierung beigetragen haben mögen, deren Kern aber die fortgesetzte, nie überwundene Krise des Kapitals ist.
Dass diese Krise allen ihren bisherigen Bewältigungen trotzt; dass kein System, am wenigsten die am meisten rigiden, gleichzeitig nationale Formierung und Weltmarktfähigkeit organisieren kann, ohne auf Widerstand in der eigenen Bevölkerung zu treffen, welche in solchen Versuchen immer nur das menschliche Material herzugeben hat; das wäre für Freund/innen der klassenlosen Gesellschaft eine gute Nachricht; denn diese Krise, die da nicht bewältigt werden kann, sind ja wir selber.
(Wir wollen einen Moment innehalten, um uns bewusst zu werden, dass es ein System sehr wohl gibt, das nationale Formierung und Weltmarktfähigkeit unter grosser Zustimmung seiner Bevölkerung zu organisieren vermag; sein Name ist Deutschland, es ist der grosse Gewinner der jetzigen ökonomischen Krise, die Revolution ist dort wirklich tot, und die Menschheit insgesamt zu schwach an Verstand und zu träge im Herzen, um diese effizienten Enkel Hitlers als das zu behandeln, was sie sind.)
Die weitgehende und allgemein bewusste Überflüssigkeit der Menschen, die sich in einer breiten Beschäftigungslosigkeit von sogar gut ausgebildeter Arbeitskraft zeigt, wäre an sich kein Krisensymptom des Kapitals, wenn es nicht von den Revoltierenden zu einem solchen Krisensymptom gemacht wird. Leider kann niemand dauerhaft gegen die Beschäftigungslosigkeit und damit Perspektivlosigkeit revoltieren, ohne gegen die menschliche Bestimmung, Arbeitskraft zu sein, im allgemeinen zu revoltieren. Ein Aufstand für Arbeit ist eine lächerliche Nichtigkeit; ein Aufstand dagegen ist ein Aufstand gegen Herrschaft und Ausbeutung, und als solcher auch zumindestens eine zweideutige Angelegenheit, solange er nicht in der Lage ist, die Fabriken zu besetzen und die Staatsmaschine zu zerschlagen.
Bei Gelegenheit der Eroberung der Bastionen der Herrschaft allerdings stellt sich die Frage nach der wirklichen Organisation einer befreiten Gesellschaft, an welcher noch jede Revolution gescheitert ist. Es ist auf jeder Stufe des Prozesses bis dahin möglich, dass die Revoltierenden den Weg zurück einschlagen, und sich entschliessen, sich dem, was immer war: der Lohnarbeit, dem souveränen Staat, der Familie, wieder zu fügen, und diesen abgelebten Formen damit neues Leben und neue Kraft einhauchen; welche nur zu fürchterlichen Zwecken verwendet werden können. Wenn aber eines, über alle Geschichte, immer verlässlich war, war es die Konterrevolution.
4. Es wird keine Regierung geben, die die Gesellschaft, wie sie nach der tunesischen Revolte ist, besser wird regieren können als die Regierung Ben Alis, des verkommenen Despoten, und insgeheim weiss das jeder Mensch. Aber wenn es um eine bessere Regierung für Tunesien gegangen wäre, wäre alles das auch nicht passiert.
Es ist kein Zufall, dass die tunesische Revolte in Formen verlief, die nacheinander die französischen Aufstände von 2005, die griechischen von 2008 und die iranischen von 2009 zu enthalten schien. Es ist auch kein Zufall, dass die tunesischen Ereignisse sich so nahtlos in diese Folge einreihen (vielleicht ergänzt um einige andere Ereignisse), dass jedes Glied dieser Kette erst verständlich zu werden scheint durch den Bezug auf alle anderen; für sich betrachtet, sind es alles spontane Ausbrüche verschiedener massenhafter Leidenschaften; aufeinander bezogen, ergibt sich das bestürzende Bild einer immer genaueren, vollständigeren, und sich seiner selbst immer bewussteren praktischen Kritik dieser heutigen Gesellschaft.
Wir wissen natürlich, dass es eine positive Dialektik der Revolution nicht geben kann. Es sieht trotzdem zum Erstaunen danach aus, als ob es eine gäbe. Wir werden gleich vielleicht noch sehen, woran sie zuletzt knirschend zu einem Stillstand kommen könnte; hoffen werden wir, dass sie es nicht tut, aber was gilt schon unsere Hoffnung?
Jede dieser Aufstandsbewegungen ging von völlig anderen Bedingungen aus, aber jede entwickelte ähnliche Formen; sie setzte sie nur immer verschieden zusammen, je nach den Umständen und dem, was sie erforderten. In Tunesien sah man zum ersten Mal das Zusammenwirken aller dier verschiedenen, in sich widersprüchlichen und konfliktuöse Elemente der vorhergehenden Bewegungen; das Anzünden von Autos beispielsweise, das offenbar mittlerweile zum international verständlichen Ausdruck einer bestimmten Kritik der Warengesellschaft geworden ist, traf unmittelbar auf das Sicherheitsbedürfnis derjenigen, denen diese Autos gehörten, und brachte diese dazu, ihre Autos selbst, mit Baseballschlägern in der Hand, zu bewachen. Man muss nicht lange raten, um zu entscheiden, wer von beiden die Übergangsregierung unstützen dürfte, und wer nicht; nach der bekannten arabischen Maxime, dass 100 Jahre Despotie besser sind als nur ein einziger Tag Chaos.(2)
Die inneren Widersrpüche der Bewegung konnten sich aber gerade nur entfalten, weil es ihr gelang, sich zu verbreitern, und den allgemein verhassten Präsidenten zu vertreiben, und die Auseinandersetzung auf das Niveau der Frage zu heben, was denn nach ihm kommen soll; ein Schritt weiter, als dies den griechischen Aufständischen gelungen ist, und ein Schritt vorwärts ins Ungewisse, in dem sich die Tendenz derer, die Autos anzünden, als eine eigene historische Partei in diesen Auseinandersetzungen konstituieren muss, oder untergehen.
Zweifellos ist gerade diese Tendenz die der unbeugsamsten Gegner einer einfachen Verlängerung des bisherigen Zustandes, und der beste Garant dagegen; ebenso zweifellos sind ihre Wünsche völlig unverträglich mit denen der Mittelschichten, oder gar des Militärs. Diese beiden hätten aber die Entscheidung, den Präsidenten zu verteiben und neu anzufangen, niemals treffen können; diese Entscheidung wurde ihnen aufgezwungen.
Bemerkenswert ist übrigens die offenkundige Beteiligung der relativ grossen tunesischen Arbeiterschaft, die noch darin ihre Widerspiegelung findet, dass von Anfang an die Analysten nach den offiziellen Gewerkschaften riefen, die als einzige Kraft in Frage kämen, die Krise zu überwinden und den Staat neu zu begründen! Wir wollen sehen, wie sie mit dieser Aufgabe zurechtkommen.
Insgesamt erscheint die tunesische Bewegung weit vernünftiger, weit erfreulicher und klüger als die französische von 2005; eine Tatsache, die interessante Erkenntnisse liefern kann über die grundlegenden Fehler der Bewegung von 2005, und die in den Kreisen, die es angeht, sicherlich genaueste Beachtung finden wird.
Genaueste Beachtung hat sie bereits in der unmittelbaren Region gefunden, wie man wissen wird; sie war schon von Anfang an nicht auf Tunesien beschränkt, sondern hatte ursprünglich auch Algerien mit umfasst; dort unter ungleich härteren Bedingungen, und konfrontiert mit einem ungleich rabiaterem Militär und einer viel terrorisierteren Bevölkerung. Sie hat aber nach kürzer Zeit schon nach Libyen hinübergegriffen, wo sich unerhörte Hausbesetzungsbewegungen ereignet haben müssen; darüber hinaus auf die arabische Halbinsel, und, wie man sich erinnern wird, auf Ägypten, wo in diesen Tagen die Morgenröte der arabischen Freiheit, oder aber bereits der Widerschein ihrer vollständigen Katastrofe zu sehen ist.
5. Was von beiden man sehen wird, hat nicht das ägytische Regime in der Hand, sondern die revoltierenden Ägpter selbst. Denn nun, sobald die Angelegenheit Ägypten, das Zentrum der weiteren arabischen Welt, erreicht, tritt ein anderer Spieler auf das Feld.
Auch in Ägypten geht es nicht nur um den Präsidenten; und auch in Ägypten hätte es das alles nicht gegeben, wenn es nur um den Präsidenten gehen hätte sollen. Man
hatte dort schon seit Jahren eine sich steigernde Folge von radikalen oppositionellen Aktivitäten sehen können, wenn man es nur wollte; bis hin zu Arbeiteraufständen; und keine der sogenannten oppositionellen Organisationen, nicht die abgelebten Charaktermasken der Linken (wiederum Überreste der arabischen Revolutionsgeschichte um die Kifaya-Koalition) und auch nicht die wesentlich mächtigeren Ikhwan al muslimun (die Hauptorganisation des Islamismus) waren in den Stand gekommen, für diese Bewegungen sprechen zu können. Im Gegenteil, ihre Versuche, an den Jahrestagen des Aufstands in Mahala al kubra zu Demonstrationen, gar zum Generalstreik aufzurufen, hatten überhaupt kein messbares Ergebnis.
Das war ermutigend; wenn umgekehrt in Ägypten Massen zu mobilisieren wären von Organisationen, die vor allem die Wiederaufnahme des Krieges gegen Israel fordern, wäre es eine Katastrofe.
Es zeigt sich denn auch, dass in den jetzigen Demonstrationen solche Forderungen keinen Raum haben; ihnen auch aktiv kein Raum gelassen; aus irgendeinem rätselhaften Grund scheint es ein aktives Substratum der Proteste zu geben, von denen eine spontane Organisation ausgeht, die es bisher geschafft haben, den Islamisten wie den Nasseristen die Stimme zu entziehen.
Ob dieses Substratum in einem allgemein geteilten Bewusstsein besteht, oder sich sogar in einer dezentralen Quasi-Organisation verkörpert, lässt sich noch nicht entscheiden.
Und dennoch, niemand weiss, wieviel Macht die Islamisten in die Strasse werfen könnten; und wenn man eines niemals unterschätzen darf, dann diesen Faktor. Die iranische Linke weiss das besser als irgendjemand. Und die Ikhwan al muslimun werden, und der Tag ist nicht fern, alles, was sie haben, daran setzen müssen, mit dieser Bewegung fertig zu werden; sie ist, ohne es zu wissen, ihr Todfeind; sie wissen das freilich ganz gut; sobald das Regime zerfällt, wird die entscheidende Schlacht gegen einen unbekannten Feind erst anfangen.
Und jeder Schritt, den die Bewegung geht, ist ein weiterer Schritt ins Ungewisse; es kommt nicht, nach dem schlechten Präsidenten, plötzlich ein guter, der alles besser Macht; sondern der schlechte Präsident ist die Rache der Geschichte dafür, so etwas wie Präsidenten und Staaten noch zu haben, nachdem sich lange gezeigt hat, das so etwas mit der Existenz der Menschheit nicht vereinbar ist. Und das Zögern vor diesen Schwierigkeiten, vereint mit dem Angriff eines unerwarteten und mörderischen Feindes, kann das Ende sein, das dieser Bewegung bevorsteht.
6. Was wollen die, die an diesen Aufständen teilnehmen? Nicht eine Präsidentschaft Baradei, oder Musawi. Nicht unbedingt neue Wahlen. Und auch keinen Krieg gegen Israel. Sondern, wie sie es sagen, ein besseres Leben. Vernünftig, und man hat gar nicht die Wahl: man mus auf ihrer Seite sein.
Was man nicht weiss, und auch nicht ahnt, ist, wie weit die Veränderungen reichen werden, die sie für nötig halten; mit wie wenig sie sich nötigenfalls zufrieden gäben; und wie genau sie sich im klaren darüber sind, welche furchtbaren Feinde sich ihnen noch in den Weg stellen werden. Furchtbarer noch als das arabische Militär, das einmal nur die eine Funktion erfüllte: auf die eigene Bevölkerung zu schiessen, und dessen Offiziere heute auf den ägyptischen Strassen stehen und die Leute bitten, doch nach Hause zu gehen.
Die iranischen Aufständischen, die sehr genau zusehen werden, was da gerade passiert, haben diese Niederlage schon lange hinter sich, und den letzten Feind vor sich. Ob die Ägypter sich das iranische Elend eine Lehre sein lassen, wird man erst sehen.
Wahrhaftig, aufregende Zeiten. Noch weiss man nicht, ob dies der Beginn eines grossen Friedens, oder eines grossen Krieges sein wird. Aber irgendwann musste es einmal passieren.
Dass die Menschheit an einem Wendepunkt angelangt ist: geschenkt. Das ist sie jeden Tag. Und jeden Tag entscheidet sie sich, auf die eine oder andere Weise, für die Fortdauer desselben Elends. Aber nicht jeden Tag zwingt die Logik des objektiven Prozesses sie, diese Entscheidung ausdrücklich, und bewusst, zu treffen. Und diese Tage, an denen dies doch geschieht, sind Tage, an denen Raum ist für sowohl bewundernswerten Heroismus als auch verhängnisvolle Dummheit; Tage der Entscheidung, an denen alleine massenhafte Zweifel am Weg, den die Dinge gehen, möglich sind, und an denen die Menschheit die Kraft finden könnte, sich schaudernd ihrer Lage bewusst zu werden. Tage, in denen die Vereinzelung aufgehoben scheint; in denen wir mit unseren Zweifeln nicht mehr alleine zu sein scheinen; Tage, in denen allein die Verhältnisse ins Rutschen und die Begriffe in Bewegung geraten könnten; Tage, die wie die qualvollen Sekunden sind zwischen Schlaf und Wachen. Tage, in denen es scheint, als könnten wir doch noch Menschen werden. Diese Tage sind es, für die sich einzig zu leben lohnt.
„Into this furnace
I ak you now to venture;
You, whom i cannot betray.“
1 So etwas hat es noch nicht gegeben, nicht 1988 in Algerien und nicht 1985 im Sudan; auch wenn man das beides neuerdings öfter hört. Beide Ereignisse, so einschneidend sie waren, sind nicht vergleichbar mit dem, was jetzt in Tunesien passiert ist.
2 Man muss auch nicht mehr lange raten, um zu begreifen, dass das Anzünden von Autos gerade ein vorweggenommener Angriff auf diejenigen Teile der eigenen Klasse ist, die man als Parteigänger der Ordnung betrachtet, ob zu recht oder zu unrecht; und damit ein mindestens symbolischer Angriff gegen Passivität und Einverständnis der proletarischen Klasse; sosehr es ein Angriff gegen das zentrale Symbol des Selbstverständnisses der Arbeitskraft von heute ist, ihre Mobilität und ihren Status.
[…] Zwei Revolten. Tunesien und Ägypten 2010/11 Teil I […]
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